Sozialdarwinismus
Unter Sozialdarwinismus versteht man eine heute wissenschaftlich diskreditierte gesellschaftswissenschaftliche Theorie, welche die von Charles Darwin erkannten Prinzipien der natürlichen Selektion aus der Biologie auf gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Phänomene überträgt. Ihre Grundthesen waren bereits vor Erscheinen von Darwins bahnbrechenden Arbeiten im Umlauf. Sie erhielten durch ein Missverstehen seines Werks jedoch erstmals eine scheinbar seriöse wissenschaftliche Legitimation. Allerdings war Darwins Begriffssystem - wie er selbst mehrfach betont - unpräzise: "struggle for life/ Kampf um´s Dasein" gebrauche er in "einem weiten und methaphorischen Sinne", schrieb er. Ebenso wandte er sich gegen eine teleologisch verstandene Natur und gegen die - wiederum von ihm selbst oft formulierte - "Personifizierung des Wortes Natur".Einer der frühen Vertreter des Sozialdarwinismus war der britische Philosoph Herbert Spencer. Er ging davon aus, dass menschliche Gesellschaften wie (nach damaligem Glauben) Populationen von Lebewesen einem Entwicklungsprozess unterliegen, in dem Erfolg und Überleben der Stärksten einer Generation - der von ihm geprägte Begriff war "survival of the fittest" - zur permanenten Verbesserung der Gruppe führt. Der Begriff des Stärksten konnte hier sowohl im direkten Sinne als auch metaphorisch zum Beispiel im Sinne kultureller Überlegenheit verstanden sein.
Obgleich Darwin der Arbeit Spencers, wie dem Begriff "survival of the fittest", zustimmte, ergeben sich auch hier inhaltlich vom Herangehen an Natur Differenzen. Das gilt ebenso für die Zustimmung zu Malthus' Bevölkerungslehre, die ihm wichtige Anregung gewesen sei. Schon Marx/ Engels - die sozialdarwinistische Vorstellungen scharf ablehnten - amüsierten sich darüber, weil Malthus Ansinnen sich nicht auf die Natur übertragen lasse (Marx an Engels 1862); sie hielten Darwins Werk aber für die Übertragung ihrer gesellschaftlichen materialistischen und historischen Vorstellungen auf die Natur, mit der Darwin auch die Teleologie "kaputt gemacht" habe (Engels an Marx 1859).
Die Theorie wurde auf ökonomischer Ebene zur Rechtfertigung des uneingeschränkten Kapitalismus herangezogen: Die Klasseneinteilung der Gesellschaften des Industriezeitalters konnte dadurch als notwendiger Bestandteil eines natürlichen Entwicklungsvorganges angesehen werden, staatliche Maßnahmen zur Elendsminderung wurden folglich als künstlicher Eingriff in die natürlich gewachsene Ordnung abgelehnt. Als Grundlage dieser Anschauung diente eine als selbstverständlich angenommene streng kausale Beziehung zwischen wirtschaftlichem Erfolg und als angeboren angenommenen Eigenschaften wie Fleiß, Intelligenz, usw.
Auf gesellschaftlicher Ebene wurde der Sozialdarwinismus zur Rechtfertigung von Imperialismus und Rassismus bis hin zum Genozid herangezogen. Die Begründung ruhte hier auf der als natürlich angesehenen Vormachtstellung einer ethnischen Gruppe über eine andere, die nicht als Folge gesellschaftlicher Umstände, sondern als Folge einer grundsätzlicheren Überlegenheit der mächtigeren Gruppe gedeutet wurde.